Gedanken zu Sumeru (-->English version)
 

Herbert Tichys abenteuerliches Durchstreifen des Himalaya, wovon ich schon vor Jahren aus seinen Büchern erfuhr, erregte meine Phantasie, und so wagte ich einige kleine Schritte, diese gewaltigen Wanderungen auf die Leinwand gewissermaßen zu übertragen, ein Versuch, etwas von der Weite dieses Lebensgefühles in Form von Malerei sichtbar zu machen.

So wurde ich dieses Jahr mit Tichy bekanntgemacht. Ich erzählte ihm von dem Vorhaben, „Kailas“ den heiligen Berg in Tibet auf realistische Weise zu malen. Ich wurde sogleich mit einem deutlichen Schwarz-Weiß-Foto beschenkt, das Tichy vor bereits 50 Jahren von diesem Berg machte.

Sichtlich überrascht wurde dann Tichy mit der dreifachen Darstellung des Berges von verschiedenen Seiten her gesehen, die Vorderfront in vergrößertem Maßstab hervorgehoben. Der nächste Schritt, so erklärte ich, wäre Kailas als Mittelpunkt der Welt, wie ihn der meditierende Hinduist, Buddhist oder auch Taoist in seiner visionären Erscheinung sieht, darzustellen.

Der mythologische Name dieses Berges ist „SUMERU“, worunter man nach alter Sanskrittradition die Achse des Universums versteht, den konzentrischen Punkt im Mandala. Also bezieht sich mount meru nicht nur aus die pysische, sondern ebenso auf die metapysische Welt. Und da unser psychopysischer Organismus ein mikrokosmisches Abbild des Universums darstellt, entspricht SUMERU der Wirbelsäule bzw. dem Rückenmark in unserem Nervensystem, dem Kanal der feinstofflichen Energien im Menschen. Über die Stufen der verschiedenen Bewußtseinszentren (sanskrit = cakra) fließt die aus der Anima aufsteigende Schlangenkraft (kundalini), sich ständig wandelnd, bis zum Scheitel hinaus, wo der Sitz der erleuchteten Kreativität lokalisiert ist, der Erfahrung des Über-Ich oder Nicht-Ich gleichzusetzen, ein Zustand, den die Inder als einen tausendblättrigen Lotus darstellen (Sahasrara-cakra).

So ist der sich am Dach der Welt (Hochplateau Tbets) befindende magnetische Berg SUMERU für die Hindus der Thron „Shivas“, während die Buddhisten in dieser Region des Gipfels das Zentrum eines riesigen Mandalas der Buddhas und Bodhisattvas sehen – ein Draht der Erde zum Himmel.

SUMERU ist seit Jahrtausenden als ikonographisches Thema in Asien bekannt. In der tibetanischen Thankamalerei finden sich viele oft sehr unterschiedliche Variationen über diese symbolische Vorstellung. Besonders erstaunt war ich, dieses Thema im Weltbild der Thailänder mindestens so tief verwurzelt vorzufinden.

Dies ist nur eine Andeutung über die Bedeutung SUMERUS:

Da ich selbst nicht gerade eine zähe Bergsteigernatur bin, und es nie weiter schaffte, die Berge von unten her ins Blickfeld zu bekommen, so sind es vor allem die Ahnungen, die mir zur Quelle werden, und so gestaltet sich der Rückzug zur Staffelei als die Schaffung einer dreidimensionalen Schilderung der sich in mir erstreckenden Seelenlandschaften, die ein wenig das Große im Kleinen reflektieren sollen.

Die Erfahrungen, die Herbert Tichy durch mehrere Jahrzehnte hindurch in vielen Landschaften und unter verschiedensten Völkern gemacht hat, strahlen auf mich eine Faszination aus, die wohl von romantischer Natur sein mag. Wer aber einmal seinen Erzählungen gelauscht hat, der kann verstehen, wie sehr mich seine Fähigkeit – in den Menschen, die von unterschiedlichsten Religionen und Geisterwelten geprägt sind, aufgehen zu können – beeindruckt. Der folgende Auszug aus dem ersten Buch Herbert Tichys mit dem Titel „Zum heiligsten Berg der Welt“ aus dem Jahre 1936 möge einen Einblick in das Leben dieses Wiener Abenteurers geben.

Benedetto Fellin, Wien, November 1983